“KIDS for KIDS”:
Das Ecole Amitié
Schulprojekt in Haiti
Interview mit Mitbegründerin Laetitia Schütt
Text:
Birte Strohmann
Photography:
Laetitia & Cornelia Schütt
22 September 2016
Haiti ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Armut wird von den häufigen Naturkatastrophen der letzten Jahre noch verschärft und viele Kinder müssen unter menschenunwürdigen Bedingungen Geld verdienen. Um diesen Kindern zu helfen, gründeten Laetitia Schütt und andere vor über 20 Jahren das Projekt Ecole Amitié - Schule der Freundschaft. Durch private Spenden, so z. B. auch durch VIVANI, wird den Kindern hier Bildung und eine Perspektive geboten. Laetitia Schütt hat uns im ausführlichen Interview darüber berichtet.
4:45 Uhr am Morgen. Einige haitianische Kinder machen sich auf den Weg durch die Dämmerung. Sie gehen barfuß, ihre Schuhe haben sie im Gepäck. Sie sollen sich nicht abnutzen, denn in ihrer Uniform wollen die Kinder später adrett aussehen. Sie sind auf dem Weg in die nächste Grundschule, die Ecole Amitié. Sie sind heilfroh, dass es diese Schule gibt, denn sie ermöglicht ihnen Bildung und eine Zukunftsperspektive, die ihnen unter anderen Umständen verwehrt geblieben wäre. Die Ecole Amitié ist keine staatliche Schule, von denen gibt es nur wenige in Haiti. Sie ist ein privates Projekt, welches vor über 20 Jahren gegründet wurde, um Kindern aus armen Verhältnissen und Restavek-Kindern* den Zugang zu Bildung zu verschaffen.
Doch die Grundschule ist noch vieles mehr. Es gibt Freizeitaktivitäten, das Selbstbewusstsein der Kinder wird gestärkt und ein besonders wichtiger Baustein ist die warme Mahlzeit bestehend aus Reis und Bohnen, die mit zum Schultag gehört. Das heißt, wenn sie irgendwie ermöglicht werden kann, denn die Schule ist in einem Staat voller Probleme auf Fördergelder, Hilfsprogramme und Spenden angewiesen. Deshalb ist jedes neue Jahr eine Herausforderung, der sich die Schulverantwortlichen gemeinschaftlich und mit großem Engagement immer wieder aufs Neue stellen.So auch Laetitia Schütt, Mitbegründerin der Ecole Amitié. Die Tochter einer deutschen Kaufmannsfamilie in Haiti wuchs in Cap Haitien auf, wo sie sich jetzt für eine bessere Bildung der Jugend einsetzt. Im Interview hat sie uns einen Einblick in das beschwerliche, aber hoffnungsvolle Leben in Haiti und der Ecole Amitié gegeben.
* Restavek sind Kinder, die unter sklavenähnlichen Bedingungen bei fremden Familien leben und arbeiten müssen. Viele kommen vom Land und werden von ihren Eltern weggegeben, weil diese sie nicht ernähren können.
Interview mit Laetitia Schütt
SCHULALLTAG
VIVANI
Laetitia, mit der Ecole Amitié leistest Du seit vielen Jahren großartige Arbeit für Restavek, arme Kinder und deren Familien. Umso mehr freuen wir uns bei VIVANI, dass wir das Projekt mithilfe unserer Kunden unterstützen können. Zunächst ein paar allgemeine Fragen. Die Schule liegt in einem Armenviertel der Küstenstadt Cap Haitien. Wie heißt das Viertel und welche Geschichte steckt dahinter?
Laetitia Schütt
Die Schule steht im Viertel „La Fosette“, das gleich außerhalb des Stadttores am Fluss liegt. Es ist das älteste Armenviertel von Cap Haitien und zu Zeiten der Kolonie wurden dort die neu eingeführten Sklaven aus Afrika eingepfercht. In den 1980er Jahren hatte die deutsche KfW Organisation [KfW-Bank] dort ein großes Slum-Sanierungs-Projekt durchgeführt und seitdem wird das Viertel auch „Quartier EPPLS“ genannt, nach dem Projektnamen.
VIVANI
Im Jahr 1996 hat der haitianische Lehrer Pierre Wallace die Schule gemeinsam mit dir gegründet. Sowohl du und deine Schwester Cornelia, als auch die „Spendenbeauftragte“ Regina Matt sind deutsch-stämmig und setzen sich mit großem Engagement für das Projekt ein. Woher kommt diese Motivation?
Laetitia Schütt
Da Cornelia (als haitianische Sängerin bekannt unter ihrem Künstlernamen TiCorn) und ich in Cap Haitien aufgewachsen sind und uns so stark mit dem Land verbunden fühlen, ist es ist es fast selbstverständlich, dass einem die Probleme von Haiti am Herzen liegen. Und meiner Überzeugung nach liegt die größte Hoffnung für das Land in einer besseren Ausbildung der haitianischen Jugend. Das Engagement von Regina Matt verdanken wir ihrer Schwester Hedwig, die an der Deutschen Botschaft in Port au Prince arbeitete und sich damals persönlich sehr für die Schule eingesetzt hat.
VIVANI
Wie können wir in Deutschland uns das Leben an der Ecole Amitié vorstellen?
Laetitia Schütt
Der Schultag fängt morgens um 7:45 Uhr an, mit dem Hissen der Nationalfahne auf dem Schulhof und dem Singen der Nationalhymne, wie in den meisten haitianischen Schulen. Um 8 Uhr beginnt der Unterricht. Um 10 Uhr ist große Pause mit warmer Mahlzeit, falls Schulspeisung möglich ist, und danach weiter Unterricht bis 12 Uhr. Das ist die erste „Schicht“. Um 13 Uhr beginnt die zweite Schicht, mit warmem Essen um 15 Uhr, falls vorhanden. Schulschluss ist um 16:45 Uhr mit Herablassen der Fahne, diesmal ohne Gesang.
VIVANI
Hier sind deutliche Unterschiede zum Ablauf in deutschen Grundschulen erkennbar. Welche weiteren Abweichungen gibt es? Hat die Schule bspw. Zugang zu Stromversorgung und Computern?
Laetitia Schütt
Obwohl sich das Leben an der Ecole Amitié stark von deutschen Grundschulen unterscheidet, gibt es auch einige Gemeinsamkeiten. Sowohl Haiti als auch Deutschland haben eine offizielle Schulpflicht, die mit sechs Jahren beginnt. Viele haitianische Kinder aus armem Milieu können ihren Schulbesuchschuelerinnen_ecoleamitie_web aus verschiedenen Gründen allerdings erst mit starker Verspätung begingen, sodass es große Altersunterschiede innerhalb der Klassen gibt. Als erstes sollen die Kinder auch in Haiti richtig Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Die Grundschule geht in Haiti jedoch bis zum staatlichen „Certificat Examen“ am Ende der 6. Klasse. Für die meisten Kinder machen diese sechs Jahre die gesamte Schulbildung aus. Neue Richtlinien des Erziehungsministeriums möchten den Grundschulbesuch für alle um drei Schuljahre verlängern, was in der Praxis jedoch nur schwer umzusetzen ist.
Ein weiterer Unterschied ist, dass die meisten Schulen in Haiti Geld kosten. Der Andrang in die viel zu wenigen erschwinglichen Schulen ist so groß, dass möglichst viele Schüler in jeder Klasse untergebracht werden. Erst seit zwei Jahren wurde die Klassenstärke an der Ecole Amitié auf 50 SchülerInnen reduziert. Fast alle Kinder gehen mit Freude und großem Eifer zur Schule, leider sind die Lehrmittel meist rar und jedes Heft, jeder Bleistift, und erst recht jedes Schulbuch ist den Schülern kostbar. Von Computern können sie nur träumen, die gibt es nur in den teuren Privatschulen oder in besonders privilegierten staatlichen Sekundarschulen. Selbst in der Direktion der Ecole Amitié gibt es nur einen privaten Laptop, der ab und zu zur Verfügung steht. Einen Stromanschluss hat die Schule bisher nicht.
VIVANI
Ist es möglich, Kinder in der Schule individuell zu fördern?
Laetitia Schütt
Schwierig. Das individuelle Fördern von Kindern z.B. durch Patenschaften ist mit zu viel Aufwand an organisierter Kommunikation verbunden. Briefe hin und her zu vermitteln und zu übersetzen kann die Ecole Amitié nicht leisten, und es würde auch viel Enttäuschung bei den Kindern auslösen, die nicht mit eingeschlossen werden können. Eine Patenschaft für Lehrer wäre dagegen denkbar und besser durchzuführen! Wenn z.B. mehrere Paten gemeinsam das Monats-Gehalt eines bestimmten Lehrers übernehmen könnten, wäre dies eine sehr große stabilisierende Hilfe.
POLITIK
VIVANI
Wie kommt es, dass die meisten Schulen nicht erschwinglich sind? Sind auch die staatlichen Schulen mit Gebühren belegt? Liegt dies an der hohen Verschuldung des Staates?
Laetitia Schütt
Die finanziellen Mittel des Staates reichen nicht aus um die Gratis-Grundschule für alle haitianischen Kinder zu garantieren. Nur etwa 10% der Grundschulen sind staatlich. Diese verlangen als Eigenbeitrag für den Grundschulbesuch symbolische 500 Gourdes (weniger als 10 Euro pro Jahr) – die Kosten für Schuluniformen und Schulbücher müssen die Eltern selber tragen. Die Bedingungen an der Ecole Amitié orientieren sich an den staatlichen Grundschulen mit dem selben „symbolischen“ Eigenbeitrag. Jede Schule hat laufende Unkosten, selbst wenn die Struktur steht und keine Miete zu zahlen ist. Das größte Problem sind immer die Lehrergehälter. Wer zahlt sie? Für Millionen von Kindern! Die Privatschulen müssen rentabel arbeiten und selbst die religiösen Schulen können die Kosten nicht allein tragen ohne erheblichen Beitrag der Eltern oder Ersatzpersonen. Manche große Hilfsorganisationen versuchen dieses Problem durch einen Aufbau von „Schüler-Patenschaften“ zu lösen…
VIVANI
Die politische Lage ist in Haiti seit jeher unstet. Momentan leitet Jocelerme Privert übergangsweise die Staatsgeschäfte. Welche Veränderungen haben sich unter seiner Regierung für die Schule ergeben?
Laetitia Schütt
Leider wurden alle Schulsubventionen vom haitianischen Staat für das Jahr 2015/16 total ausgesetzt. Ob die staatliche Unterstützung in der augenblicklichen verworrenen politischen Lage mit endlosen Wahlkomplikationen fürs Schuljahr 2016/17 wieder aufgenommen werden kann, ist noch äußerst fraglich. Das bedeutet für die Schule weiter anhaltende finanzielle Unsicherheit und Sorgen.
Ebenso unklar ist die Situation mit den Nahrungsmittellieferungen der PAM [Programme Alimentaire Mondiale; Welternährungsprogramm] an die Schulen für 2016/17. Es besteht ein kleiner Schimmer von Hoffnung, gibt jedoch noch keinerlei feste Zusagen für zukünftige Schulspeisungen. Ein warmes Essen für die SchülerInnen ist sehr wichtig in diesem Umfeld, besonders wo die Lebensmittelpreise in Haiti ernorm gestiegen sind. Auf jeden Fall soll die Schulküche so bald wie möglich in Stand gesetzt werden, um jederzeit wieder einsatzbereit zu sein.
VIVANI
Aufgrund von Fälschungsvorwürfen und Gewaltausbrüchen wurden die Wahlen mehrfach verschoben. Im Herbst 2016 sollen sie nun endlich stattfinden. Wie äußern sich die Wahlkomplikationen?
Laetitia Schütt
Die Bevölkerung ist das Thema Wahlen weitgehend leid, und sie betrachtet alle Kandidaten mit viel Skepsis – und die Oktober Wahlen sind noch weit weg. In Port au Prince, wo sich die Politiker zu profilieren suchen ist die Stimmung aufgeheizter. In Cap Haitien herrscht nur das normale tägliche Chaos einer lebendigen Stadt.
VIVANI
Obwohl sie sich eine Insel teilen, sind die Dominikanische Republik und Haiti uneins. Zuletzt sorgte eine neue Bürgerschaftspolitik der Dominikaner für Aufruhr. Inwiefern ist der Konflikt im Alltag spürbar?
Laetitia Schütt
Der Konflikt ist historisch – mit ab und zu stärkeren Krisen. Aber insgesamt ist doch zu viel wirtschaftliches Interesse auf beiden Seiten um Verbindungen ganz abzubrechen. Der Abschiebungs-Konflikt des letzten Jahres ist nicht gelöst aber „abgeflaut“. Gegenseitige Schikane an der Grenze wird eher als lästige Behinderung angesehen.
AUSBILDUNG UND WEITERFÜHRENDE ANGEBOTE
VIVANI
Eine wirklich tolle Möglichkeit für die Schulabsolventen ist die Nähschule. Sie können dort eine Ausbildung machen und erste Erfahrungen sammeln. Die Resonanz ist überwältigend und die Plätze in der kleinen Nähschule heiß begehrt. Sind weitere Ausbildungsmöglichkeiten geplant? Welche Berufe sollen ausgebildet werden? Konnten Absolventen der Nähschule bereits einen Job finden?
Laetitia Schütt
trommeln_webSehr gerne würden wir allen Absolventen die Möglichkeit einer Ausbildung geben. Doch das Einzige was realistisch machbar scheint – wenn das Stromproblem in näherer Zukunft gelöst werden könnte – wäre vielleicht, ein oder zwei besonders „nützliche“ Abendkurse anzubieten, z.B. Englisch und Spanisch. Im Augenblick können wir nur einigen der älteren abgehenden Schüler die Möglichkeit geben das Schneiderhandwerk zu lernen, oder etwas Malerei und Kunsthandwerk.
Der Malerei- und Kunsthandwerkskurs steht aber noch ganz am Anfang. Auf diesem Gebiet gibt es durchaus Berufschancen, vor allem wenn sich der Tourismus in Haiti wieder beleben und ausweiten würde – worauf alle sehr hoffen. Aber es gibt auch lokalen Bedarf an „artistes business“, d.h. Bemalern von Taptap-Bussen [haitianische Sammel-Taxen], Namensschildern und Wänden mit bunten Bildern und Sprüchen in schöner interessanter Kalligraphie. Der Kunstkurs soll sich einen großen Raum mit der Schneiderwerkstatt teilen. Dafür wurden drei zusätzliche große Tische mit Bänken hinzugefügt. Auch als Musiker kann man sich in Haiti einen bescheidenen Lebensunterhalt verdienen. Gute Musik-Bands und Sänger genießen ein großes Ansehen. Der Zugang zu allen teureren Instrumenten zum Üben ist hierbei die größte Schwierigkeit. Nur Trommeln und Rasseln sind leicht zu bekommen. Blechkapellen sind sehr beliebt und werden viel engagiert um Anlässen „Feierlichkeit“ zu verleihen.
VIVANI
Deshalb sind die Freizeitaktivitäten in Kunst und Musik wahrscheinlich so beliebt. Im Sportbereich hat sich besonders der Judo-Club inzwischen etabliert. Sind weitere Angebote geplant?
Laetitia Schütt
Der Judo-Club ‚Cobra’ ist längst zu einem festen Bestandteil der Schule geworden. Der hochqualifizierte Judo Sensei und vielseitige Athlet Silien möchte sein ehrenamtliches Engagement an der Ecole Amitié noch ausweiten und nach Möglichkeit auch weitere Sportarten wie Volleyball und Bodenturnen in das Programm aufnehmen. Gerne würde die Ecole Amitié auch wieder etwas auf musikalischem Gebiet anbieten können, doch es fehlt da an Instrumenten. Die Blechkapelle, die drei Jahre lang an der Schule existierte, hatte nur mit geliehenen Instrumenten geübt, und dies konnte leider nicht aufrecht erhalten werden nach Abgang der ersten eintrainierten Gruppe.
HOFFNUNGEN, PLÄNE, WÜNSCHE
VIVANI
Welche weiteren Pläne und Wünsche habt ihr für die Ecole Amitié? Was würdet ihr gerne noch anschaffen oder verwirklichen?
Laetitia Schütt
Was sich die Ecole Amitié für die kommenden Jahre besonders erhofft ist eine zuverlässige finanzielle Unterstützung, die es ermöglicht die Lehrergehälter zu sichern und vielleicht sogar in einigen Jahren die zusätzlichen Klassen 7, 8 und 9 an dieser Schule anbieten zu können. Besonders dringend sind zusätzlich einige wichtige Infrastruktur-Arbeiten. Zwei der Dächer, das der Turnhalle/Aula und das der Küche und Nebenräumen, müssen total erneuert werden. Außerdem muss die Latrine erneuert werden und auch an den Außenmauern sind Renovierungsarbeiten fällig. Gerne würden wir den Schulhof etwas besser gestalten und begrünen. Durch eine bescheidene Solarinstallation könnte das Stromproblem für uns gelöst werden, was einige Verbesserungen zur Folge hätte. Natürlich gibt es auch über die Infrastrukturfragen hinaus eine ganze Reihe von Anschaffungen, die sich die Ecole Amitié sehr wünschen würde. Wir brauchen dringend mehr Schulbücher zum Ausleihen, und mehr Arbeitsmaterial für den Werkunterricht. Außerdem freuen wir uns über jede Art von Musikinstrumenten. Irgendwann, wenn das Stromproblem gelöst werden kann würden wir vielleicht gern einige Computer mit Internetanschluss und einen Filmprojektor für DVDs anschaffen. Dies liegt zurzeit aber leider noch in weiter Ferne.
VIVANI
Wie schätzt ihr die Zukunft der Schule ein? Kann ihr Fortbestehen auch weitere 20 Jahre gesichert werden? Gibt es eine Entwicklung bzw. einen Trend?
Laetitia Schütt
Die Zukunft der Ecole Amitié war von Anfang an nie „gesichert“. Sie war als eine Art Übergangslösung gegründet worden, mit legalem Status als nonprofit „Ecole Communautaire“, in der Erwartung, dass sie später in das offizielle staatliche Grundschulsystem eingegliedert werden würde. Es war in 1996 nicht vorherzusehen, dass das Budget des haitianischen Erziehungsministeriums bis heute den großen Herausforderungen nicht genügen würde. So wird die Ecole Amitié versuchen wie bisher von Jahr zu Jahr zu überleben, und ihre Pläne für Verbesserungen den jeweiligen finanziellen Möglichkeiten anzupassen. Bis sie, in vielleicht 10 Jahren, doch noch Teil eines erneuerten und besser finanzierten staatlichen Grundschulsystems werden kann.
LACHEN UND WEINEN MIT DER ECOLE AMITIÉ
VIVANI
Viele Teile der Welt hatten in der ersten Hälfte des Jahres mit Unwettern zu kämpfen. Auch Haiti war wieder schwer betroffen. Wie hat die Ecole Amitié die Unwetter erlebt? Wurden wieder Schäden verursacht?
Laetitia Schütt
Die letzten alten Nähmaschinen sind leider der großen Flut zum Opfer gefallen. Ein kleiner Generator, den die Ecole Amitié geschenkt bekommen hatte, war bei der großen Flut vom November 2014 unbrauchbar geworden. Seitdem ist Strom ein ungelöstes Problem an der Ecole Amitié. Das städtische Elektrizitätswerk hat keine ausreichende Kapazität um alle zu versorgen und liefert nur wenig und unregelmäßig Strom an die Armenviertel, deren Bewohner „schlechte Zahler“ sind und zudem die Leitungen gerne illegal „anzapfen“. Die Schulleitung hat nach mehreren Versuchen aufgegeben viel Besserung von der Stadtversorgung zu erwarten. Für eine Solarinstallation, die Ideal-Lösung, waren noch keine Mittel vorhanden. Abendkurse können ohne Licht nicht angeboten werden, und die Schneiderwerkstatt funktioniert auch nur mit fuß- oder handbetriebenen Nähmaschinen.
VIVANI
Konnte das Jahr 2016 Verbesserungen hervorbringen? Was ist von der Wetterlage zu erwarten?
Laetitia Schütt
Die Schüler der Ecole Amitié sind alle ein Jahr weiter gekommen! In ihren Köpfen ist 2016 hoffentlich die wichtigste „Verbesserung“ mit Aufnahme von mehr Wissen zustande gekommen. An den äußeren Verbesserungen der Infrastruktur wird jetzt in den Ferien noch gearbeitet: Hauptpunkte sind Erneuerung von zwei Dächern und Latrine. Dieser Sommer ist besonders heiß, aber ansonsten ist das Wetter zum Glück soweit stabil.
VIVANI
Trotz aller Schwierigkeiten konnte das Schulprojekt bereits sein 20-jähriges Jubiläum feiern! In der Zeit habt ihr sicherlich viele bewegende Lebensgeschichten erlebt. Wenn ihr einmal Revue passieren lasst, was hat euch besonders berührt?
Laetitia Schütt
Mir persönlich macht es jedes Mal Freude zu sehen wie sehr alle Kinder sich auf dem Schulgelände „zuhause“ und wohl fühlen. Und ich bin stolz darauf, dass die schulischen Ergebnisse über die ganzen Jahre hinweg so überdurchschnittlich gut waren. Ich habe es immer vermieden einzelne Schüler direkt über ihre Lebensgeschichten zu befragen – fast jede dieser Geschichten in diesem Milieu wäre „bewegend“ und jede individuelle Befragung von mir würde leicht unerfüllbare Erwartungen auslösen. Es sind die Lehrer, die besser über besondere Werdegänge berichten könnten. Es war beim Jubiläumsfest berührend zu sehen, wie stark sich die abgehende 6. Klasse mit der Ecole Amitié verbunden fühlte, und wie ungern sie unsere Schule verließ. Die meisten dieser Schüler haben ihre gesamte Schulzeit hier verbracht. Nur ein Teil von ihnen wird Platz in einer weiterführenden Schule finden.
Deshalb trugen die Abgänger nochmals ihre sehnliche Bitte vor, dass die Ecole Amitié auch noch die Klassen 7, 8 und 9 einführen würde, denn sie alle wären so gerne weiter an dieser Schule geblieben… Leider mussten sie die Antwort hinnehmen, dass dies, vorerst jedenfalls, nicht möglich sein würde zu finanzieren. Die meisten der älteren Schüler (vor allem die 14-18 Jährigen) werden versuchen müssen irgendwie ein Handwerk zu erlernen.
VIVANI
Zu sehen, wenn den Kindern Bildung und eine Perspektive verschafft werden, muss ein schönes Gefühl sein. Gab es in den 20 Jahren Kinder, an deren Werdegang ihr euch gerne erinnert, weil er euch glücklich und stolz macht?
Laetitia Schütt
Einer der wenigen männlichen Absolventen, der „Star-Lehrling“ René Luxon, der seine ganze Grundschulausbildung an der Ecole Amitié gemacht hat, hat inzwischen seine eigene Schneiderwerkstatt aufgebaut, mit drei Nähmaschinen und zwei zusätzlichen, von ihm eingestellten Gehilfen. Er verdient sich damit das nötige Geld um gleichzeitig an einer Sekundarschule doch noch sein BAC (Abitur) zu machen. Danach will er weiter sehen…
Andere Absolventen nähen privat zuhause vor allem Schuluniformen. Die Textilfabriken in der Nähe der Stadt sind noch nicht richtig in Gang gekommen. Ab und zu gibt es einige „Hochbegabte“ (mit entsprechenden Zeugnissen), welche Stipendien in staatlichen Sekundarschulen bekommen, ihr BAC machen, und manchmal sogar zur Universität gehen können. Aber die Ecole Amitié kann nur die unterste Stufe auf der Leiter nach oben sein und versucht darin ihre Funktion zu erfüllen – so gut es eben geht trotz aller Schwierigkeiten!
In unserem Ecole Amitié-Ticker halten wir euch immer auf dem Laufenden, was es Neues im Leben der Schüler, ihrer Lehrer und der ehrenamtlichen Helfer gibt. Freude und Leid liegen hier manchmal sehr nah beieinander…
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