100 Jahre Demeter

Deutschlands ältester Bioanbauverband mit Zukunftsvisionen

Text:
Katharina Kuhlmann

Photography:
© Inga Israel / © YOOL

17 Juli 2024

An Pfingsten 2024 war es so weit: der Demeter e. V. wurde vor unglaublichen 100 Jahren ins Leben gerufen. Im Jubiläumsjahr blickt der Verband mit Stolz darauf zurück, was sich durch die Arbeit engagierter Menschen im Laufe eines Jahrhunderts alles bewegt hat. Aber es geht natürlich auch um einen Blick in die Zukunft: Wo steht Demeter heute? Welche Antworten hat die biodynamische Landwirtschaft auf die aktuellen Probleme und Herausforderungen unserer Zeit, wie etwa den Klimawandel? Wir haben mit Victoria Seggert und Thorsten Keuer von Demeter im Interview gesprochen und spannende Einblicke erhalten.

Demeter – 100 Jahre Anbauverband mit starken Grundsätzen

Im Vergleich zu anderen ökologischen Anbaumethoden beruht das Demeter-Konzept auf dem Prinzip der biologisch-dynamischen Kreislaufwirtschaft. Diese geht auf den Vordenker und Erfinder der Anthroposophie Rudolf Steiner zurück, der seine Theorien an Pfingsten 1924 interessierten Landwirt*innen in einer Vortragsreihe im schlesischen Schloss Koberwitz vorstellte. Dieses Ereignis gilt bis heute als der Gründungsimpuls der gesamten Demeter-Bewegung. In der Folge wurden die Ideen Steiners auf dem Feld erprobt und immer weiterentwickelt.

Das ganzheitliche Konzept wurde schnell zu einem Erfolgsmodell, um fruchtbaren Boden aufzubauen und zu erhalten – eines der Kernziele von Demeter. Um dies zu erreichen, arbeiten auch heute noch Demeter-Betriebe nach dem Prinzip eines geschlossenen Kreislaufsystems, bei dem das richtige Verhältnis von Tieren, Ackerflächen und Pflanzen auf dem Hof entscheidend ist. So produzieren die Tiere genau die ausreichende Menge Mist für die Düngung der Felder und die Felder bringen nicht nur Ertrag für die Menschen, sondern liefern auch wiederum Nahrung für die Tiere. Die geschlossene Kreislaufwirtschaft trägt sich also selbst und vereint so Menschen, Pflanzen, Tiere und Boden zu einem lebendigen Hoforganismus.

Um einen lebendigen Hoforganismus im Sinne der biodynamischen Landwirtschaft zu pflegen, müssen Bäuer*innen eine Reihe an Bestimmungen und Vorgehensweisen beachten. Dadurch heben sich die Betriebe nicht nur von der konventionellen, sondern auch von der klassisch ökologischen Landwirtschaft ab. Besonderheiten sind etwa die verpflichtende Tierhaltung (Rinder), eine eigene Kompostwirtschaft und das Arbeiten mit selbsthergestellten, biodynamischen Präparaten. Darüber hinaus müssen 10 % der Hoffläche als Raum für Artenschutz und Biodiversität reserviert werden. Verboten sind z. B. Pestizide, mineralischer Stickstoffdünger, die Enthornung von Rindern oder auch hohe Verarbeitungsstufen von Lebensmitteln, wie etwa das Homogenisieren von Milch.

Die Interviewpartner

Unsere beiden Interviewpartner sind beide aktive Referenten beim Demeter e. V. und arbeiten u. a. in der Betreuung von Mitgliedern (Landwirt*innen, Unternehmen usw.)

Die aus dem nordrheinwestfälischen Münsterland stammende Victoria Seggert (39) kam schon früh während langjähriger Auslandsaufenthalte in Kanada und den USA mit dem organic food Sektor in Kontakt. Ihre Bio-Leidenschaft brachte die studierte Volkswirtschaftlerin ab 2015 zum Demeter-Verband. Nach anfänglicher Leitung des Messeteams ist sie seit 5 Jahren Referentin in den Bereichen Grüne Frische und Trockensortiment.

Thorsten Keuer (57) kam schon als 15-jähriger während eines Praktikums auf einem Demeter-Hof mit dem Verband in Berührung. Als gelernter Landwirt und staatlich geprüfter Agrartechniker war er 30 Jahre lang selbst als Demeter-Praktiker tätig und leitete mehrere Betriebe im Raum Pfalz und Hessen. Durch die Neustrukturierung des Verbands in 5 deutsche Regionen im Jahr 2019 fand Thorsten als Regioreferent des Landesverbandes Demeter im Westen einen neuen Aufgabenbereich. Seitdem ist er erster Ansprechpartner für Demeter-Mitglieder aus Verarbeitung und Handel.

Interview: 100 Jahre Demeter – Gegenwart & Zukunftsperspektiven

VIVANI

Liebe Frau Seggert, lieber Herr Keuer, in diesem Jahr feiern wir 100 Jahre biodynamische Landwirtschaft und die Begründung der Demeter-Gemeinschaft – ganz herzlichen Glückwunsch an den gesamten Verband! Der Grundstein dazu wurde an Pfingsten 1924 durch die bekannten Vorträge Rudolf Steiners gelegt. Durch die engagierte Arbeit und Forschungen von Pionier*innen wurden die Ideen von damals bis heute immer weitergetragen und ausgebaut. Was sind Ihre Gedanken, wenn sie auf diese Leistungen zurückblicken?

Thorsten Keuer:

In den Gedanken und Themenkomplexen der Vorträge der Pioniere steckt sehr viel Zukünftiges. Wir beschäftigen uns heute in fast allen Lebensbereichen mit dem Ganzheitlichen und Nachhaltigen!
Als junger Mensch und Jung-Landwirt waren die Inhalte des landwirtschaftlichen Kurses für mich ein Stück Wegweiser in meiner Persönlichkeitsentwicklung. Der landwirtschaftliche Kurs lehrt im Wesentlichen viel Eigenverantwortung. Es geht um das Erkennen von Zusammenhängen in der Umwelt und Schärfung der bewussten Wahrnehmung. Es ist kein landwirtschaftliches „Sofort-Rezept“. Wenn ich als Landwirt den Boden durch viel technische Bearbeitung verdichte, belebe ich durch nachgelagerte Anwendung von Präparaten den Bodenorganismus wieder. Das braucht aber seine Zeit. Die Vorträge bringen viel Hoffnung mit sich.

Victoria Seggert:

Genau. Rückblickend zeigt sich, dass Begriffe wie Ganzheitlichkeit und Ökologiebewusstsein nicht nur schnelllebige Modeerscheinungen oder sogenannte Mega-Trends sind. Im Prinzip sind sie beide für das Überleben der Menschheit notwendige Bedingungen.
Im Jahr 1924 bildete sich ein „biodynamischer Think-Tank“. Rudolf Steiner hielt eine Vortragsreihe im schlesischen Schloss Koberwitz. Noch während des Kurses gründete sich ein Versuchsring, der Praxis und Forschung in ganz Mitteleuropa angestoßen hat. Alles ganz ohne Social Media Vernetzung!

VIVANI

Ganzheitlicher Hof-Organismus, verpflichtende Tierhaltung, biodynamische Präparate – die Anforderungen an die biodynamische Landwirtschaft unterscheiden sich z. T. deutlich vom klassischen Bio-Anbau und gelten als die strengsten überhaupt. Warum entscheiden sich dennoch immer mehr Landwirt*innen für den Demeter-Anbau oder behalten diese Methode auf traditionellen Höfen bei?

Thorsten:

Streng klingt immer so nach Schule. Die strengen Richtlinien sind eher das Ergebnis einer gesteigerten Bewusstseinshaltung für die ökologischen Zusammenhänge.
Wenn man als konventioneller Landwirt zunächst zur Öko-Landwirtschaft kommt, will man womöglich den Betrieb sukzessive noch ganzheitlicher führen. Dann lässt man zum Beispiel die Hörner bei den Kühen irgendwann dran. Aber natürlich, es gehört viel persönliche Überzeugung dazu und die wirtschaftliche Machbarkeit muss genau geplant werden. Dazu geben wir als Verband gerne Hilfestellungen auf den sogenannten Umstellertagen oder auch in der persönlichen Beratung.

VIVANI

Hinter dem Demeter-Anbauverband steckt also eine über 100 Jahre gewachsene, starke und überzeugte Gemeinschaft. Aber gerade in der heutigen Zeit leben viele Menschen eher auf der Überholspur und fühlen sich Traditionen immer weniger verbunden. Ist Demeter in unserer Gesellschaft bloß noch eine Art Relikt oder kann das erprobte Wissen dem heutigen „billigen“ Massenkonsum etwas Kraftvolles entgegenhalten? Was ist heute vielleicht aktueller denn je?

Victoria

Demeter – Lebensmittel müssen sich im Hier und Jetzt messen. Unsere Lebenswirklichkeit ist geprägt durch Leistungsbereitschaft im Alltag. Dafür brauchen wir meiner Meinung nach ein Optimum an Lebensmittelqualität. Produktqualität entsteht durch eine werterhaltende Verarbeitung. Demeter Bäcker setzen zum Beispiel keine technischen Enzyme beim Backen ein.

Thorsten

Ein Gedanke oder auch Impuls dazu: Demeter ist ja die griechische Göttin für Fruchtbarkeit. Demeter-Lebensmittel bieten demnach eine fruchtbare Grundlage für menschliches Gedeihen.
Beim Demeter-Lebensmittel kommt aus meiner persönlichen Sicht auch die geistige Komponente hinzu. Demeter-Lebensmittel nähren mich über das Stoffliche hinaus. Nicht nur die technische Komponente, d. h. die Sättigung, sollte erfüllt werden. Die spirituelle Ebene von guten Lebensmitteln lässt sich mit der einer warmen Mahlzeit vergleichen: Man spürt einfach, wenn es mit Liebe gekocht ist.

VIVANI

Zum Thema „billige Lebensmittel“ auf der einen gesellen sich auf der anderen Seite auch Probleme von weltweiten Ausmaßen, die aus den Fugen zu geraten drohen. Klimakrise, Krieg mitten in Europa, Inflation aber auch der rasante Anstieg der Weltbevölkerung. Wie kann die biologisch-dynamische Landwirtschaft unter diesen Vorzeichen noch effektiv vorangetrieben werden und solidarisch für alle Menschen Lebensmittel produzieren?

Victoria

Ich finde die Frage sollte eher sein: Können wir uns als Gesellschaft billige Lebensmittel eigentlich überhaupt noch leisten?
Die Kosten durch Volkskrankheiten, die zum Beispiel durch den Konsum von ungesunden, billigen Lebensmitteln mitbegünstigt werden, müssen von unserer Volkswirtschaft ja nachträglich getragen werden. Der Demeter Verband setzt sich bereits für die Ermittlung von sogenannten „true costs“ ein.
Außerdem sollten gute Lebensmittel für alle sein. Die Versorgung mit ökologisch wertvollen, im besten Fall biodynamischen Lebensmitteln, sollte kein Privileg von Besser-Verdienern in Bildungsschichten sein.

Thorsten

Oft arbeiten Landwirte in Ländern mit weniger Wohlstand automatisch am sogenannten Demeter-Ideal. Ohne es zu wissen. Im Gegensatz zu unseren Industrienationen ist in diesen Ländern häufig ein intuitives Wissen erhalten geblieben, das nach wie vor aktiv genutzt wird. Denn aus einer finanziellen und existenziellen Notwendigkeit heraus arbeiten diese Bauern mit Mitteln aus dem eigenen Hoforganismus.

Victoria

Das finde ich ganz spannend.

VIVANI

Noch einmal etwas tiefer ins Thema Klima: Demeter gilt laut einer Studie von 2020 als die nachhaltigste „Marke“ Deutschlands. Was läuft hier besser als beispielweise beim klassischen Bio-Anbau? Überspitzt: Kann Demeter unser Klima retten?

Victoria

Das schaffen wir als Menschheit nur zusammen! Aber gute und gesunde Böden sind wichtig. Mit Kompost, Mist, Gründüngung und biodynamischen Präparaten belebt die biodynamische Landwirtschaft den Boden, baut Humus auf und bindet klimaschädigendes CO2 im Boden.

Thorsten

Bei Demeter ist der Tierbesatz, also die Anzahl an Tieren pro Hektar, begrenzt durch die gegebene Fläche. Es soll möglichst hofeigenes Futter bereitgestellt werden, dadurch werden Futterzukauf minimiert und Soja-Importe aus Übersee vermieden.

Victoria

Demeter-Landwirt*innen arbeiten mit tierischem Dünger und Kompost statt mit mineralischem Stickstoffdünger und chemisch-synthetischen Pestiziden. Damit wird auch fossile Energie, die zur Herstellung letzterer benötigt wird, eingespart. Und die Bienchen und Blümchen finden das natürlich auch gemütlicher.

Demeter ist längst kein nationales Phänomen mehr. Nach 100 Jahren Verbandsgeschichte arbeiten über 7.000 Landwirt*innen in etwa 60 Ländern der Welt nach den bewährten Anbaumethoden, die Rudolf Steiner einst initiierte – und die Zahl steigt immer weiter. Vielleicht brauchen wir in unseren Zeiten der Maximierung eine bewusste Entschleunigung, Konzentration auf das Wichtigste und auch eine Spur mehr Demut. Liebe Frau Seggert, lieber Herr Keuer, vielen Dank für ihre interessanten Antworten und weiterhin alles Liebe und viel Erfolg für die nächsten 100 Jahre biodynamische Landwirtschaft.

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